„Kuckuck! Kuckuck! ruft’s aus dem Wald.“

Auch an „de Mööle“ vernahm man vom nahen Walde her häufig den Ruf des Vogels, der seine Eier in fremde Nester legt und bei dessen heiserem Klang man deshalb rasch sein Portemonnaie schüttelt, damit nach einem alten Aberglauben die „Eier“ darin vermehren. Aber es gab jemanden in der Gegend der Alten Kaserne, der diesen Ruf täuschend ähnlich nachahmte. Es war eine Frau, die Katje hieß, und deshalb von aller Welt nur Katje Kuckuck genannt wurde. Man sah sie stets einen Kinderwagen vor sich her schieben.
Sie hatte erkannt, daß das Geld auf der Straße lag. So sammelte sie alles, was an Lumpen, Knochen und Altmetall umherlag. Einmal wurde sie sogar fotografiert, als eine junge Ziege aus dem Wagen schaute. Wer weiß, wo sie die gefunden hatte! Vielleicht war es auch ihre eigene. Jedenfalls fand Katje Kuckuck ihre beste Abnehmerin in der „Lompegrriet“, die gut bürgerlich Grete Vervoorts hieß, aber von jedermann nur „Lompegrriet“ genannt wurde, weil sie auf dem Heideberg mit Lumpen handelte.
Von den Einnahmen aus ihren Sammlungen bestritt Katje Kuckuck ihren Lebensunterhalt; manchmal, das heißt meistens, reichte es noch für etwas mehr. Wo alles trank, konnte Katje doch nicht dürsten. Wenn sie dann nach einem kräftigen Schluck so richtig frohgelaunt war, ließ sie ihren Kuckucksruf erschallen. Er fand ein vielfältiges Echo in der nahen Kaserne bei den sechsundfünfzigziger Musketieren. Wer von ihnen kannte Katje Kuckuck nicht?
„Katje, köj noch?“ schallte es aus den Kasernenfenstern.
Und die Antwort auf diese Frage? „Jo, Saldoot, änn minne Mathis ock noch.“
„Minne Mathis“, das war ihr Mann, und „Hänneke Ketz“, das war ihr Sohn. Er war einer der bekanntesten Klever Originale. Ja, wie seine Mutter, die auf ihre Art selbständig das Leben meisterte, war auch Hänneke bestrebt, ein freier Mann zu sein. Er ging keiner Arbeit aus dem Wege. Allerdings arbeitete er nicht immer. Eben nur gelegentlich – aber dann! Am alten Hafen schleppte er die schweren Säcke aus den Schiffsrümpfen. Ihr Inhalt war für die Ölmühlen bestimmt. Ja, damals kannte man im Klever Hafen weder Kran noch Elevator.
Von Zeit zu Zeit aber erwachte in Hännekes Brust der Wandertrieb. Dann verließ er die Heimat auf unbestimmte Zeit nach Handwerksburschenart: „Ich will mein Glück probieren, marschieren.“
Er marschierte nicht allzu weit. Manchmal war es irgendein Bauernhof in der Umgebung, manchmal die Arbeiterkolonie „Petrusheim“. Sie lag bei Weeze an der holländischen Grenze. Hier harrten große Teile der Heide beim Grenzort Well der Kultivierung. Hanneke half beim Lupinensäen und bei anderen, manchmal recht schweren Kultivierungsarbeiten. Aber wenn Hännekes Wandertrieb Befriedigung gefunden hatte, dann packte ihn auch wieder das Heimweh.
„Hänneke es wär tüss!“ raunte man sich in Kleve zu, wenn er wieder zu Hause war. Ein Halstuch umgeknotet, im Ohr einen kleinen silbernen Ring und im Munde einen Strohhalm oder eine Blume; so war er, und so hat ihn Manes Peters gemalt.
Die stillen Winkel, wo man sich einen hinter den hohlen Zahn schütten konnte, waren ihm sehr geläufig. Da kehrte er bei „Jödd Meyer“ ein, heute „Kölner Hof“, wo es noch einen Doppelstöckigen gab, wie ihn die Fuhrleute liebten. Den braven Dores hatte Hanneke noch gekannt. Er war der Wirt des Gasthofs „Oranienbaum“. Dort, in der Gaststube des Lokals an der Hagschen Straße, das später „Stadtschenke“ hieß, hing bis zur Vernichtung Kleves das verräucherte Bild dieses Gastronomen.
Besondere Attraktion in jener Gastwirtschaft waren zu dieser Zeit Damenkapellen, die monatlich ihr Engagement wechselten. Sie spielten täglich. Sonntagvormittags von 11 bis 13 Uhr war die Bude voll, und die Klever sagten: „Wej gon nor de Mäuskes!“
Doch Hanneke Ketz war nicht irgendwer. Hänneke war ein tapferer Soldat, der als erster Klever im ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war. Sein alter Batteriechef hat ihn nicht vergessen. Er war es, der das von Manes Peters gemalte Bild aus Kleve ins Ruhrgebiet holte. Nun muß der Manes einen neuen Hänneke Ketz malen, der in der Heimatstadt bleibt.
Wenn Hänneke diverse „Heiligenhäuschen“ (das waren Stehbierhallen, in denen es aber mehr Schnaps als Bier gab) besucht hatte, dann bekam er Mut. In seiner Brust erwachte wieder der soldatische Geist. Er nahm Haltung an und gab sich selbst soldatische Befehle. Vom Kommandogeben verstand er etwas, da er es immerhin zum Unteroffizier gebracht hatte.
So hieß es dann an der letzten Theke: „Liinks umm! – Aappteilung maaarsch – Aaachtung!“ – und im Stechschritt marschierte Hänneke etwas schräg aus dem „Heiligenhäuschen“, während ein Zechkamerad geräuschvoll die Tür aufriß. Er marschierte zackig bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle, gab sich das Kommando zum Halten, machte rechtsum und wartete in Rührt-euch-Stellung auf die Ankunft der Straßenbahn.
Hänneke hatte nichts mehr zu rauchen. Nur noch eine halb abgequetschte Zigarre fand er in der Jackettasche. Als die Straßenbahn herankam, holte er sie umständlich hervor und sprach einen älteren Herrn an, der genussvoll qualmend ausstieg: „Heij, nit en betje Füüür vör min?“ Und schon hatte er dem ahnungslos Qualmenden die Zigarre aus dem Mund genommen und hielt das brennende Ende an seine Kippe.
Natürlich zog die nicht so recht, und um das Feuer seines Gegenübers zu verstärken, vertauschte er die beiden Rauchwerkzeuge und machte ein paar kräftige Züge an der Zigarre des allzu bereitwilligen Herrn. Dieser maß Hänneke mit einem verachtungsvollen Blick von oben bis unten und trollte sich brummend: „No schmokt mar eiges wie.“ So kam Hänneke zu seinen Rauchwaren.
Ein andermal hat Hänneke mit einem großen Blumenstrauß ins Feinkostgeschäft Trienes, wo es schon öfters mal einen Schnaps für ihn gegeben hatte. Er überreichte den Blumenstrauß der Inhaberin: „Geij hät van Daag Geburtstág.“
„Na, Hänneke“, sagt sie, „dann hem ek doch vörge Wääk al gehat.“ Aber die Blumen nimmt sie an und schüttet Hänneke einen Schnaps ein.
Während sie weiterbedient, legt sie die Blumen auf die Theke, Hänneke kippt seinen Schnaps herunter, schnappt sich die Blumen und verläßt den Laden; er hatte sie nebenan in einem Blumengeschäft für seinen Streifzug geholt.
So hielt es Hänneke immer: „Den Schnaps, den geij van Daag niet prüf, et’s märge längst verschlökert!“ In einem Karnevalsschlager schrieb daher ein Zeitgenosse für Hänneke diese Strophe:
Änn Hänneke lößt kenn Läwerwroon, denn hät öm doch so gut gedohn. Doch wat man öm ock biejt, nee, nee, hej lößt öm niet.
Hänneke selbst hat keiner Fliege etwas zu Leide getan. Er war ein Original, aber kein Muster ohne Wert.
Dennoch wurde er in der Nazizeit als „Asozialer“ abgeholt. Hänneke konnte es nicht fassen: „Ek mot now gohn, ek hem doch gen Menz Ärbeijt weggenohme, ek kann dat niet verstohn!“
Von Hänneke Ketz hat man nie wieder etwas gehört.
Bild oben KI generiert
– Elefanten-Post 13. Jahrgang /Juni/Juli 1963
Die hier veröffentlichten Beiträge aus den historischen Werkzeitungen der „Elefanten-Post“ unterliegen dem Urheberrecht.
Jegliche Vervielfältigung, Verbreitung, Weitergabe oder Veröffentlichung in anderen Medien oder auf externen Websites ist ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Klever Schuhmuseums nicht gestattet.
