
Wenn die Matrosen von langer Fahrt heimkehren, dann spinnen sie beim Grog in der Hafenkneipe ihr „Seemannsgarn“.
Bekannt ist auch nach reichlichem Genuß von „Zielwasser“ das traditionelle „Jägerlatein“. Wer aber hörte schon einmal den Ausdruck „Schusterlatein“? Er ist in Vergessenheit geraten. Aber in Alt‑Kleve war er beheimatet. An den langen Winterabenden saßen sie beim Schein der Petroleumlampen und erzählten sich gruselige Geschichten, daß sich die Balken bogen. Kein Chronist hat sie je aufgeschrieben.
So war es, als der alte Jansen, ein Hüne von Kerl, fast kahlköpfig, aber mit einem langen Bart, die Faust auf den Holztisch knallte und die Geschichte vom verrückten Prinzen erzählte. Der wohnte vor einer halben Ewigkeit da unten im Materborner Feld, dort, wo heute die Gustav‑Hoffmann‑Kampfbahn entsteht.
„Potdome“, sagte Vater Jansen, „dat was ene Käerl“, und spuckte den Primen auf die Erde. „Habt ihr schon mal von dem Swarte Paul gehört?“ so fuhr er fort, und als die Umsitzenden stumm nickten, da erzählte er die Geschichte von dem verrückten Prinzen, der durch den Tiergartenwald vierspännig fuhr, aber von seinen Wagen nur Schweine gespannt hatte.
Als er eines Tages den steilen Abhang des Springenberges hinunterraste, da bekam er so viel Fahrt, daß er geradewegs in den kleinen runden Tümpel fuhr, der direkt am Fuße des Abhangs lag.
Seither ist er verschollen, und niemand hat jemals etwas über sein Schicksal erfahren. Der Tümpel aber hieß seit der Zeit im Volksmund „Swarte Paul“, und man erzählte, daß der Wagen des verrückten Prinzen eine magnetische Kraft entwickelte, so daß keiner, der in den Swarten Paul hineingerate, jemals wieder herauskäme.
Gespannt hatte die Runde dem Erzähler zugehört, und der alte Jansen sah jedem bedeutungsvoll in die Augen. Er kriegte sich „en Teffke“ zur Hand, nahm einen Zug und strich seinen Bart. Behutsam fing er mit dunkler Stimme wieder zu erzählen an und holte seine Worte wie aus einer anderen Welt.
Als auf der Schwanenburg noch ein Schafott stand, da läutete in der Frühe von der anderen Kirche das Armesünderglöcklein: „Komm mit, komm mit, komm mit!“ Und man wußte nicht, was kälter war: die schneidende Luft oder der schneidende Ton des Glöckleins. Da führte man einen Delinquenten zur Richtstätte. Aber von den sonst so schaulustigen Bürgern wollte diesmal kein einziger den letzten Gang des Verurteilten miterleben.
Alle saßen zu Haus und steckten die Beine ans Feuer. Nur der Richter, der das Urteil vorlas, ein Arzt und zwei Zeugen hatten sich herausgewagt und sahen den Henker bei der Arbeit; der versuchte vergebens, dem Verurteilten die Hände zu binden. Es war so kalt, daß der Strick sich immer wieder auseinanderzog und nicht schlingen wollte. Schließlich gab der Henker es auf und schob den Delinquenten zur Exekutionsstätte. Der wehrte sich nicht einmal.
Der Richter, der Arzt und die Zeugen sahen noch, wie das Fallbeil niederging und den Kopf vom Rumpf trennte; dann gingen sie fröstelnd in den Burgsaal zurück und legten ein paar Scheite auf. Der Kopf indes, er rollte in einen Haufen Sägemehl, drehte sich einige Male, und der Zufall wollte es, daß er dabei auf den am Boden liegenden Rumpf fiel und dort anfror. Auch der Henker hatte inzwischen die Stätte verlassen, weil er es vor der bitteren Kälte nicht mehr aushalten konnte.
Nach einer Weile kam der Hingerichtete wieder zu sich, sah sich um und fand das Tor offen. Da stand er auf und ging nach Hause. Er betätigte den „Klopfer“ an der Haustür, und sein Weib machte ihm mit verweinten Augen auf. Sie empfing den Totgeglaubten und führte ihn in die Küche, um ein warmes Frühstück zu bereiten. Aber beide dachten nicht daran, daß die Wärme das Eis auftauen würde, und da geschah es: Der Kopf fiel erneut herunter, nun aber endgültig.
Mäuschenstill war es in der Stube. Im Geiste sah man den alten Scharfrichter Böllen nach getaner Arbeit über den Kleinen Markt eilen. Geängstigt begab sich die Jugend zur Ruhe. Doch vorher schaute man noch einmal unters Bett, ob da vielleicht einer lag. Und in der Nacht, es sei im Halbschlaf oder im Traum, sah man Gestalten, die sich bewegten wie der verrückte Prinz, oder man sah blutige Köpfe herumspazieren, die ihre Körper suchten.
Dabei waren doch alles nur Lügenmärchen gewesen, „Schusterlatein“.
Heinrich Suter – Elefanten-Post 10. Jahrgang / Dezember 1960
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