
Es war das kleinste Haus in jener Ecke der „Reitbahn“. Es genügte noch vor einem halben Jahrhundert, um die Büroräume der Klever Ortskrankenkasse aufzunehmen. Hier standen die Schreiber an den hohen Stehpulten. Nur der Leiter durfte sitzen – im Nebenraum. Das Krankengeld war dementsprechend nur ein Notgroschen. Gesund zu sein und nicht für jede Kleinigkeit den Arzt aufzusuchen, das galt’s bei unseren Vorfahren.
Ihnen waren die Hausmittel noch bekannt, welche die Natur uns schenkt. Da gab es Pfefferminze (Mentha piperita) als Tee bei Erkrankung des Magen‑ und Darm‑Kanals wie auch bei Gallen‑ und Lebererkrankungen. Die Blüte der Linde (Tilia cordata) gab es als Aufguß zum Schweißtreiben, die aus Lindenholz gewonnene Holzkohle bei Diarrhöe; das Allheilmittel, die Kamille (Matricaria chamomilla), nahm man bei Entzündungen, zum Gurgeln und Inhalieren. Und dann der Leinsamen (Linum usitatissimum). Als Tee regelte er die Darmtätigkeit, und als Kompresse hatte er schmerz‑ und reizlindernde Wirkung.
Ja, da man in Kleve – trotz seines Rufes als Badeort – die Ärzte noch an den Fingern herzählen konnte, war der Leinsamen das Hauptmedikament eines jener wenigen Medizinmänner. Bei ihm hieß es in der Sprechstunde immer wieder „Pappen“. Er meinte damit das Auflösen von Geschwülsten durch heiße „Papp“-Umschläge mit dem wohltätigen Leinsamen. Daher wurde der Dr. Tennhosell weit und breit als „Papp‑Jan“ bekannt. Reichtümer ließen sich dabei allerdings nicht erwerben.
Die ersten Ärzte ließen sich bereits mit Pferd und Wagen zu ihren Patienten fahren, als man ihn noch die Pedale seines Stahlrosses treten sah. Doch der „Papp‑Jan“ war wirklich ein begeisterter Radfahrer. Natürlich war er ein eifriges Mitglied des Radfahrvereins „Über Berg und Tal“, in dem auch Gustav Hoffmann seine radsportlichen Trophäen holte. Die Praxis von Papp‑Jan lag in der Hagschen Straße, zwei Häuser unterhalb der heutigen Stadtsparkasse. Ob er in der Praxis war, konnte jeder erkennen. Dann lag sein ganz besonderer Liebling, eine englische Bulldogge, vor der Tür.
Papp‑Jan war ein großer Tierfreund. Mit unermäßlichem Stolz stand er eines Tages vor der Buchhandlung Ernst Hansen, gegenüber dem alten Rathaus, um eine Illustrierte zu betrachten, die eine hochprämierte englische Bulldogge zeigte: ein Ebenbild seines eigenen Hundes. Eine dicke Menschentraube bildete sich um Papp‑Jan, Bild und Bulldogge. „Die mine hat awel ne bäter Stort!“ verkündete der Doktor stolz, und über der Diskussion hatte er seine Praxis ganz vergessen.
Papp-Jan hing nicht nur mit abgöttischer Liebe an seinem „Mops“; der Hund spielte auch eine große Rolle in seiner Praxis. Kam da irgend jemand mit einem Wehwehchen in die Sprechstunde, hieß es stets: „Dat hät minnen Hond ok!“ Und im übrigen: „Pappen!“ Es waren Diagnosen auf den ersten Blick. Solche Diagnosen liebte Papp‑Jan.
Eines Tages trat ein junger Mann in seine Praxis. Er hielt die Hand hinter dem Rücken verborgen und sah etwas blaß aus. Papp‑Jan maß ihn mit scharfem Doktorblick und ließ ihn mit den Worten näher kommen: „Ek sinn et all: Influenza!“ Daraufhin nahm der junge Mann seinen blutenden Finger in die Höhe und sagte: „Nee, Herr Doktor, ek häm de Fenger kapott.“ Doch Papp‑Jan ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Mar gej siet nett so uit, as datt gej Influenza hätt.“
Ein andermal kam ein Versicherter der van den Berghschen Betriebskrankenkasse zu ihm als seinem Vertrauensarzt. Der arme Kerl hatte bis dahin niemals krank gefeiert und sich schon einige Tage redlich mit seinem Hexenschuß geplagt. Nun ging es nicht mehr. Die Schmerzen hatten ihm derart zugesetzt, daß er kaum den Küferhammer heben konnte. Mühsam schleppte er sich vor die Augen des gestrengen Doktors: „Hexenschuß – dat hätt minnen Hond ok gehat. Twee Dag pappe en dann köj weer arbeije.“ Alsbald verließ ein geschlagener Mann die Praxis.
Draußen feuerten die Fuhrleute ihre Pferde an. Vor den großen zweirädrigen Schlagkarren hatten sie wegen der stark ansteigenden Straße ein weiteres Tier in Vorspann genommen. Hinter der Gardine aber wachte Papp‑Jans Haushälterin. Sie war Mitglied im Tierschutzverein. Wehe, wenn ein Tier geschlagen wurde! Dann klingelte es. Das Telefon nämlich bei der Polizei im nahen Rathaus. Papp‑Jans Haushälterin sorgte dafür, daß die Polizei ihren vierbeinigen Schützlingen beistand.
Kein Wunder bei so viel Tierliebe, daß ein junger Zeichner auf die Idee kam, diese „geschäftlich“ zu nutzen. Er nahm sich den Mops mit dem Ringelschwanz zum Modell und zeichnete ihn. Stolz kam er mit seinem Werk zu Papp‑Jan. Dieser warf einen flüchtigen Blick auf die gelungene Zeichnung und murmelte „schön“, ohne die symbolisch ausgestreckte Hand des werdenden Künstlers zu bemerken. Vor Wut vernichtete der junge Mann die Zeichnung.
Ob der hochbegabte Junge aus diesem Vorfall tiefgehende Schlüsse gezogen hat? Er wurde nämlich nicht Maler, sondern Arzt. Sein Name: Heinz Lamers. Sein Bruder aber ist Maler geworden. Hanns Lamers arbeitet in Meister Koekkoks Atelier und hat den Namen seiner Vaterstadt durch manche Ausstellung weit hinausgetragen.
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– Elefanten-Post 13. Jahrgang / Mai 1963
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