Klever Originale: „Hindenburg“

Klever Originale: „Hindenburg“

Klever Originale: „Hindenburg“

„Kennt gej Hindenburg?“ So fragte einst ein alter Klever einen Freund. „Ja, selbstverständlich“, meinte dieser, „den Russenfänger in der Masurenschlacht.“ „Nein, diesen meine ich nicht.“

„Ach so, da hatten wir in Kleve noch einen Zöllner, den wir Hindenburg nannten. Eigentlich hieß er Pfeiffer. Mit drei F. Er war Führer einer Jugendwehrkompanie und betrieb mit den Berufsschülern des letzten Jahrganges vormilitärische Ausbildung während des ersten Weltkrieges. Zweimal sonntags und eventuell samstags abends. Die Kompanie 443, das waren die Schuhmacherklassen. Damals kam auch die Schlacht auf der Donsbrügger Heide zustande.“

Die Odenkirchener Jugendwehrkompanien waren schon am Samstagmittag in Kleve eingetroffen und hatten ihre Musikkapelle mitgebracht.

Am Sonntagnachmittag waren sie auf dem Marsch von Kleve nach Kranenburg und wurden von den Klever Patrouillen auf dem Wege zur Donsbrügger Heide beobachtet. Die Kompanie 443 lag mit ihrem Chef „Hindenburg“, dem Zöllner, am Waldesrand, dort etwa, wo sich heute der Ehrenfriedhof befindet. In Schützenlinie gingen die Odenkirchener vor, um den Wald zu stürmen.

Die Klever Verteidiger feuerten aus allen Knallkorkpistolen. Dann gab es ein Handgemenge, das ernsthafte Formen annahm. Es endete mit einer blutigen Niederlage der Klever, die nicht nur ihr Maschinengewehr einbüßten, sondern auch noch gefangen genommen wurden.

Hindenburg war teufelswild, vor allem darüber, daß einige seiner Zöglinge die Sache nicht ernst genug nahmen. Wo doch jeder Mann dringend benötigt wurde, versteckten sich einige hinter den Bäumen und riefen dem schwitzenden Kompanieführer von allen Ecken noch seinen Spitznamen zu: „Hindenburg, Hindenburg, der Russenfänger!“, um gleich darauf, wenn der empörte Pseudo-General den Blick wandte, wieder in volle Deckung zu gehen.“

„Nein“, sagte der alte Klever, „auch diesen Hindenburg meine ich nicht. Aber die Donsbrügger Heide hat auch einmal ein anderer durchstreift. Stolz und aufrecht, wie der alte Hindenburg, war er von Figur. Er war einer von den bekannten Originalen des alten Kleve.“

Nehmen wir ihn so, wie er im „Woaterklub“, der Karnevalsgesellschaft des Gesellenvereins Kleve (Präsident: „Korsettenkapitän“ Müller), in dem Stück „Ausflug zu den Forellenteichen“ dargestellt worden ist: gerade Haltung, Zwirbelbart nach oben, runde Schiffermütze mit Schirm auf dem Kopf, Ledergamaschen, in der Hand eine Gerte, mit der er drohte, wenn die Kinder ihm nahekamen.

Die Pfingstausflüge zu den Forellenteichen, den sieben Quellen am Nordrande des Reichswaldes, dort, wo die alte Bahn sich nach Kranenburg zieht, waren in Kleve Tradition. Wer gut laufen konnte, steckte sein Ziel noch weiter.

Vorbei ging es am „Weißen Raben“, jenem Bauerngehöft in der S‑Kurve der Alten Bahn am Fuße des Hingstberges, wo früher einmal die Postkutschen ihre Pferde wechselten. Nur noch eine kurze Wegstrecke war es dann, und man kehrte ein bei „Mixe onder de Bömmkes“. Das war eigentlich kein Wirtshaus, aber Mixe hatte eine große Rasenfläche als Bleiche, auf der sich die Gäste niederließen.

Mixe war bekannt dafür, daß sie Schnaps in kleinen Medizinflaschen reichte. Dazu gab es dicke Schinkenbutterbrote, auf denen manchmal die Fingerabdrücke von Mixe noch mitserviert wurden. Dort war auch der Hindenburg zu finden, und nicht nur zu Pfingsten. Er hieß Jan Rüttjes, war ein Freund der Natur und kannte hier oben jeden Weg und Steg. Schon durch seine Figur machte er Eindruck und ließ die Stimmung bei den Ausflüglern gewaltig ansteigen. Später war er einer von den dienstbaren Geistern am Klever Bahnhof und begleitete manchen Geschäftsreisenden beim Besuch der Kundschaft.

Jan hatte auch, wie man so sagen pflegt, einen „guten Riecher“, und das war manchmal sein Vorteil. Vor allem bei den Nahrungssorgen nach dem Kriege, als Steckrüben, auf verschiedene Art zubereitet, zum Leibgericht wurden und Brennnesseln an die Stelle von Spinat traten. Damals gingen die Menschen des kriegszerstörten Gebietes von Kleve auf Kalorienjagd. Jeder versuchte, auf dem Lande zusätzlich etwas zu erhalten. Auch die Schüsterkes waren an einem Samstag über Land gegangen. Und wen trafen sie schon auf einem der ersten Bauernhöfe? Den Hindenburg.

Es war zur Mittagszeit, und der Duft einer deftigen Erbsensuppe drang nach draußen. Daß Jan sie gerade gekostet hatte, sah man ihm an: das Fett hing noch in seinem Bart. Genießerisch zeigte er mit dem Daumen über den Rücken: „Gott mar herin, et ös noch wat door!“

Aber da war er schon unterwegs zum Hof gegenüber, wo er sich den ganzen Krieg über einmal in der Woche ein paar anständige Schinkenbrote abholte.

Ja, der alte Kunde hatte den Krieg überstanden. Für sein Alter war er noch gut auf den Beinen. Wie in früheren Jahren trug er die Gamaschen und hielt seine Gerte in der Hand. Wenn die Kinder riefen: „Hindenburg!“, dann beschleunigte er nur seinen Schritt und drohte wie einst.

Aber die Bombenschläge hatten auch ihn heimatlos gemacht. Seinen Lebensabend verbrachte er in einer Sied­lung am Stadtrand. Noch einmal machte er von sich reden, als die verschiedenen Klever Karne­valsgesellschaften versuchten, den Klever Karne­valszug wieder auf die Beine zu stellen. Hinden­burg war sein „Schirmherr“.

Mit einem auf­ gespannten Gartenschirm marschierte er vorne­ weg. Aber es nutzte nichts. Der Klever Karne­valszug kam über diesen Versuch nicht hinaus. Der Hindenburg ist darüber gestorben. Auf dem Friedhof in Hau liegt er begraben. Sein Bild hängt, von Manes Peters gemalt, in einem Fri­seursalon. Und dort spricht man dann und wann noch von ihm – von „unserem“ Hinden­burg.

Heinrich Suter – Elefanten-Post 13. Jahrgang / November 1963

Die hier veröffentlichten Beiträge aus den historischen Werkzeitungen der „Elefanten-Post“ unterliegen dem Urheberrecht.
Jegliche Vervielfältigung, Verbreitung, Weitergabe oder Veröffentlichung in anderen Medien oder auf externen Websites ist ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Klever Schuhmuseums nicht gestattet.

Nach oben scrollen