„Der Mömmeler“

Ein mächtiger Lindenbaum von geradem Wuchs bildete einst das Wahrzeichen des Grünen Heideberges, bis er sich bei einem Gewittersturm am Pfingstsonntag 1934 gegen das hinter ihm stehende Haus lehnte. Schon 13 Jahre vorher hatte ihn ein Blitzschlag am Wurzelhals verletzt und eine tiefe Narbe hinterlassen. Dort wurde der Baum nun vom Sturm abgeknickt. Das Haus selbst hatte auch Tradition aufzuweisen. Es war einst das Stabsgebäude der „Bückeburger Jäger“ gewesen, die vor den 60ern in Kleve in Garnison lagen, zu einer Zeit, als noch nicht einmal eine Kaserne gebaut war. Die Soldaten hatten es gemietet, und es lag im Privatquartier.
In jenen Jahren überragte die Linde alles, blühte prächtig und verführerisch duftend. Fröhliche Kinder spielten in ihrem Schatten. Plötzlich durchbrach ein schriller Schrei das Idyll: „Mömmler, Mömmeler!“ Und er pflanzte sich fort, immer mehr wurden es, die riefen: „Mömmeler, Mömmeler!“
Ein älterer Mann mit grünem Lodentuch, an der linken Hand einen Eimer mit Kohlen, zur Rechten ein Bündel Reisigholz an einem Spazierstock geschnürt, verschwand in einem der beiden Häuschen in unmittelbarer Nähe. Es war das Haus Nr. 12, welches einem Herrn Goldschmidt gehörte, dessen Vater in der „Pöttkam“ hier eine Gerberei betrieben hatte und der Sohn heute noch in Brüssel lebt, wo von er aus sich Kleve durchaus verbunden fühlt.
Hier im Hinterhaus, wo er zur Untermiete wohnte, führte Hendrickus Wels, wie der bürgerliche Name des „Mömmelers“ lautete, ein Eremiten-dasein. Kleve war ihm zur Wahlheimat geworden, gleich vielen seiner holländischen Landsleute, die gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts vom Sog der sich neu ansiedelnden Industrie erfasst wurden. Er hatte seine Militärzeit in Holländisch-Indien verbracht und kam nun als junger Ehemann arbeitsuchend mit seiner Frau nach Kleve.
Bei der alteingesessenen Firma Gebr. Battermann in der Hagschen Straße, wo heute das Fernmeldeamt steht, wollte er als „Schilderer“ (so hieß die holländische Bezeichnung für Anstreicher) den Pinsel schwingen. Meister Ton fragte ihn nach seinen Schreibkenntnissen. „Ja, Meester“, hatte Hendrickus behäbig gesagt, „met n linke Hand, met los en tue Ooge“.
Bei der Arbeit und im Umgang mit der Kundschaft stand dem neuen Gesellen das Mundwerk nicht still. Er redete viel. Und wenn er nicht redete, dann waren seine Mundpartien stets in kauender Bewegung, wobei die Spitzen seines gepflegten Schnurrbartes einen besonderen Tanz aufführten. Deshalb wurde er von seinen Kollegen vielfach geneckt. Einer hatte es aufgebracht, und jeder bezeichnete ihn bald als „Mömmeler“. Der Mömmeler schwor Rache. Es gab noch andere Vorwürfe, die man dem Mömmeler machte. Sein Kollege Jan zum Beispiel behauptet, daß er die Köchin des Kurhauses dauernd um Schnaps angebettelt habe.
Der Mömmeler aber wußte von den zarten Banden, die wiederum Kollege Jan zur Kurhausköchin – sie hieß Auguste – spann. Das wäre noch angegangen, wenn Jan nicht verheiratet gewesen wäre. Aber so brach das Gewitter an einem Sonntagmorgen herein. Jan begleitete die nichts ahnende Auguste vom Kirchgang durch den Klever Forstgarten heim.
Plötzlich trat hinter einem Rhododendronstrauch Jans Frau hervor und schrie „Watt mott gej met minne Mann?“ fuhr fürchterlich mit beiden Händen der Auguste in die Haare und machte das Schillerwort von den Weibern, die in bestimmten Situationen zu Hyänen werden, wieder einmal wahr.
Auguste konnte sich nur durch die Flucht retten. Der Mömmeler hatte sich gerächt. Im Übrigen war der Mömmeler groß im Erfinden von Lügenmärchen. Er erzählte von Nachbarinen, die ihm seine Blumen verhext hätten. Er glaubte an Geister, und wenn sie in der Nähe waren (die Geister natürlich und nicht etwa die Nachbarinen), verhängte er die Fensterscheiben mit alten Zeitungen.
Bei soviel Seltsamkeit war es kein Wunder, daß die Kinder ihm auf der Straße nachriefen. Und es begann eine Schimpfkanonade, die meist mit den Worten schloß: „Soort van Kleef, Soort van den Heidberg!“ Dazu drohte der Mömmeler kräftig mit der Faust hinterher. Aber die Kinder hielten Abstand und ließen sich dadurch wenig beeindrucken.
In der Zeit, als Schlager in Schwung war: „Kutt erop..be Palms, do es de Pief verstoppt…“ kannte man die Wohnung des Mömmelers auch als Räucherkiste. Aber trotz allem machte er sich am Sonntag ebendort seinen Spinat mit Spiegeleiern. Als Nachspeise gabs Pudding. Damit der Speisezettel vollständig wurde, holte er am Nachmittag noch Gebäck von Frau Langenberg, welches er gegen Rosen aus dem Forstgarten erstand.
So lebte der Mömmeler, bis seine Kräfte versagten. Nur wenige haben Notiz von seinem Tode genommen. Der große Lindenbaum, dessen Schatten auf Josef Heißings Schusterwerkstatt fiel, spendete ihn auch dann noch auf das Hinterhaus Nr. 12. Der Mömmeler aber lebt in der Erinnerung der alten Klever weiter, so wie sie ihn als Kinder gekannt haben.
Heinrich Suter – Elefanten-Post 13. Jahrgang / Januar 1963
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