Der Klever Postengang 

Das Bild zeigt eine historische, humorvolle Zeichnung einer Straßenszene im Stil des frühen 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht ein sehr korpulenter Polizist in Uniform mit Helm, der mit erhobenem Zeigefinger autoritär wirkt und breitbeinig auf der Straße steht. Links von ihm stehen zwei männliche Figuren in ziviler Kleidung, die sich erregt gestikulierend an ihn wenden, während rechts eine Frau mit Haube und Schürze mit erhobenen Händen überrascht oder empört reagiert; im Hintergrund ist eine Straßenlaterne und angedeutete Häuser- oder Wolkenkontur zu sehen.

Der Klever Postengang war eine schmale Gasse. Er führte einstmals als Verbindung vom Großen Heidberg zur Heideberger Mauer, die sich vor hundertvierzig Jahren an das Heideberger Tor anschloß, etwa dort, wo heute der Rollschuhplatz ist. Hier an der Stadtmauer und davor lag einst die geschlossene Siedlung der Tuchmacher und Weber, die wegen der Feuergefährlichkeit ihres Gewerbes dort angesiedelt worden waren. Wenn man in alten Chroniken stöbert, begreift man das.

In der Chronik des Johannes Turck zum Beispiel steht die Geschichte des großen Stadtbrandes, der am Donnerstag nach dem Osterfeste des Jahres 1528 am Regenbogen ausbrach. Die halbe Stadt fiel ihm zum Opfer. Auch das Gewandhaus, das Gildehaus der Weber am Großen Markt, wurde damals vernichtet. Die Häuser vom Heideberg, von der Stechbahn und von der halben Hagschen Straße brannten aus. Aber damals war es nicht anders als heute. Aus den Ruinen blühte neues Leben.

Schon 1755 besaß Kleve eine Seidenfabrik und Musselinmanufaktur. In der Napoleonischen Zeit, also fünfzig Jahre später, ging dann die Herstellung von Webereierzeugnissen zurück; aber mit der Schusterei ging es aufwärts. Die Kinder der Weber sattelten um. Wenn man also will, kann man die Weberei in Kleve als den Grundstock der heutigen Schuhindustrie bezeichnen.

Natürlich hatten die Schuster auch ihre eigene Tradition. Bereits in einer Gildenurkunde des Jahres 1295 machten sie von sich reden, und zwar ganz in der ihnen eigenen Art: Sie ächteten die Überstunde! Sie verpflichteten sich damals, nicht bei Kerzenlicht zu arbeiten. Wenn man im Dunkeln nicht schaffen wollte, da mußte manchmal schon der Sonntagmorgen herhalten, um den Ausgleich zu bringen. Aber wann sollte der sonntags schaffte, sich ausruhen? Blieb nur der „blaue Montag“, jener „gesegnete“ Tag, an dem das Versäumte tüchtig nachgeholt wurde. 

An diesem Tage kamen die alten Maßeinheiten „Möttje“ (das wir heute als doppelstöckigen bezeichnen würden) und „Örtje“ ( etwa ein viertel Liter) beim Einkauf des „Teffke“ hoch zu Ehren. In der dadurch gehobenen Stimmung erscholl so manches Lied teils freudigen oder auch schaurigen Inhalts aus den rauhen Männerkehlen.

Kein Wunder daher, daß später die „Preußen“ ebenso um die Ruhe der Bürger besorgt waren wie die Organe der alten Grafen von Kleve, die Randalierer ins Brücktor am Spoykanal sperrten. Ja, wenn an der Heideberger Mauer oder in der Weberstraße – der Name erinnert ja noch an die einstigen Bewohner – ein Strauß auszutragen war, erscholl lauthals der Ruf nach der Polizei. Durch den Postengang kamen sie dann mit aufgesetzter Amtsmiene, die zu ihnen gehörte wie ihr Helm.

Da war Putz Ingenleuf, und wo er hinschlug, wuchs kein Gras mehr. Und trotzdem haben sie ihn einmal drangekriegt, als er mit großer Kraftanstrengung zwei Kampfhähne im Weberviertel getrennt hatte: „Wej häbbe geen Stritt, wej moke bloß ene Ringkampf“, so sagten sie grienend.

Auch „Heine“, der ebenso mit der Jugend wie mit der deutschen Sprache auf Kriegsfuß stand, war öfter dort oben in Aktion. Ihm müssen wir noch einmal ein Extrablatt aus der Klever Geschichte widmen. Außerhalb seiner Reichweite sangen dann die Burschen: „Der Bürgermeister und der Landrat und der Heine mit dem Flachsbart müssen alle, müssen alle ins Hühnerloch hinein.“

Neben den drei Polizeibeamten unter Kommissar Müller hatten auch noch drei Nachtwächter die Ruhe als erste Bürgerpflicht zu garantieren. Abends um zehn traten sie im Flur des alten Rathauses an: Jan Jaspers, Imke van Hamerem und „de decke Bodden“.

Als Zeichen ihrer Würde trugen sie einen dicken Knotenstock, und wenn bei „den decke Bodden“ etwas los war, dann vernahm man seine Trillerpfeife, und schon kam als Verstärkung Imke angewackelt. Der sagte dann gewichtig zu den froh gelaunten Schustern: „Gej könnt doch net senge, wenn wej dür de Kält marschierde.“ Aber schon kam Jan Jaspers um die Ecke und unterbrach ihn: „Imke, sitt stell, hier senn eck de Führer!“


Trotz der gewichtigen Nachtwächter trieben die Schüler des Gymnasiums zur nächtlichen Zeit ihr Unwesen. Im „krummen Ellenbogen“, der heutigen Kolpingstraße, war es damals nicht geheuer: Ein Menschenschädel, ein kahler Totenkopf, grinste des Nachts gräßlich über die Mauer und erschreckte die Passanten mit Heulen und Zähneklappern, besonders wenn es sich um junge Mädchen handelte.

Schließlich fand sich ein beherzter Beschützer (keiner der Nachtwächter), der mit deftigen Knüppelschlägen dem Spuk ein Ende machte. Wer will, kann die Aufklärung des Spuks noch harmlos nennen. Ein paar Primaner hatten hinter der Mauer gesteckt und einen Schädel aus dem Besitz ihres Biologieprofessors auf dem Stock tanzen lassen.


Im Café bei der alten Frau Hunk, jener, die so ein bißchen durch die Nase sprach, heckten zu der Zeit drei Schüler einen anderen Plan aus. Sie schlichen zum „Papa Labs“, einem Vorfahren des jüngst verstorbenen Klever Originals, und nahmen das Reklameschild „Papierwäsche“ mit, um es vis-à-vis dem Rathaus an einem sehr seriösen Wäschegeschäft anzubringen. Nun aber schnell weg und den Kloppberg hinauf zur Küfenstraße. Dort hing beim Schuster Büchi das Berufsschild seiner Frau, als sie noch unter ihrem Geburtsnamen Kück stadtbekannt war. Zwei Schrauben waren zu lösen, und am nächsten Morgen sahen es die Kirchgänger an der Tür des Dechanten Drießen. Darauf stand weithin sichtbar: „Hebamme“.

So brachten die Klever Jungen die Welt in ihre Ordnung. Manchmal war diese Ordnung etwas respektlos. Ich denke an den Kurfürsten Johann Sigismund, der jahrelang auf steinernem Sockel bei Wind und Wetter Wacht vor der Schwanenburg hielt. Diese Eintönigkeit mußte die jungen Burschen natürlich verführen. Warum ihn also nicht neu einkleiden?

Ein Nachthemd wurde als passend für ihn befunden, und als neuen attraktiven kurfürstlichen Hut bekam er einen verbeulten Nachttopf. Keiner der Nachtwächter hatte dieses nächtliche Tun bemerkt. Auch die Täter hüllten sich in Schweigen. Sollen wir heute, nach mehr als fünfzig Jahren, das Geheimnis lüften? – Nun, einer unter ihnen sollte der Pionier der Klever Schuhindustrie werden; er hieß: Gustav Hoffmann.

Heinrich Suter – Elefanten-Post 11. Jahrgang / März 1961

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